Mensch oder Farbe? Repräsentation oder Materialität? Individuelles Porträt oder abstraktes Gemälde? Die vielschichtigen Werke von Jaemin Lee werfen Fragen auf – der Künstler erklärt uns bei einem Atelierbesuch seine Sichtweise.

Deine Bilder changieren zwischen Abstraktion und Figuration – der Betrachter kommt meist nicht umhin, in dem Gefüge aus Pinselstrichen Gesichtszüge zu erkennen. Dennoch wirken die Farbspuren, als seien sie ungerichtet gesetzt. Arbeitest du vor dem Malakt eine Komposition raus oder ergibt sich die Struktur des Gemäldes während des Schaffensprozesses?
Das hängt von den Bildern ab. Bei meinen aktuellen Arbeiten habe ich grobe Kompositionen im Kopf, jedoch hängt alles vom Malprozess ab. Im Vorfeld überlege ich, was ich male bzw. wie das Motiv im Format steht: Ob ich den ganzen Kopf darstelle oder einen gewissen Ausschnitt. Der Rest entwickelt sich während des Malens. Bleistiftvorzeichnungen oder Kompositionsskizzen verwende ich nicht.
Mein künstlerisches Schaffen befindet sich allerdings in einem stetigen Wandlungsprozess: Alles, was ich sage, ist für mich in dem Moment richtig. Ich spüre, dass ich selbstverständlich die Wahrheit sage, dies aber momentan relevant ist und sich ändern könnte.

 

Jaemin Lee - Wer zusieht sieht mehr als wer mitspielt IV
Jaemin Lee – Wer zusieht sieht mehr als wer mitspielt IV

 

Deine Arbeiten repräsentieren menschliche Gesichter. Möchte man die klassischen Gattungsbegriffe anwenden, würde man die Gemälde als Porträts bezeichnen, die sich dem Individuum im Spannungsfeld aus Person und Typus annähern. Inwiefern reihen sich deine Bilder in diese Tradition der Porträtmalerei ein?
Nur zu einer Hälfte würde ich meine Arbeiten als Porträts bezeichnen. Es stimmt, dass ich versuche, den Menschen über seinen Kopf zu lesen; dass ich mich ihm über das Gesicht annähere. Ich schaue, wie das Gesicht komponiert ist und aus welchen unterschiedlichen Elementen es sich zusammensetzt. Dabei ist die Farbe besonders wichtig. Mit den Bildern möchte ich ergründen, wie die Menschen sind, und die wahren Hintergründe darstellen. Bei einigen Werken habe ich allerdings den Kopf nur als Mittel verwendet, um mich mit der malerischen Materie auseinanderzusetzen. Für mich ist das Spiel zwischen Figurativ und Abstrakt sehr wichtig. Meine Arbeit, egal an welchen Motiven, muss immer wahrhaftig sein. Ob nun figurativ oder abstrakt.
Besonders spannend finde ich die Reaktion der Betrachter. Zuerst sehen viele in meinen Bildern abstrakte Arbeiten und erst mit der Zeit erkennen sie das Motiv. Allerdings werden nicht alle meiner Arbeiten vom Betrachter als abstrakt wahrgenommen. Es ist nicht mein Ziel, Suchbilder zu malen. Es ist nur ein Nebeneffekt, wenn der ein oder andere ein Gesicht erkennt. Es hängt ganz individuell von den Menschen ab, was sie erkennen. Manche sehen zum Beispiel ganz deutlich eine Landschaft, wo von mir de facto ein Gesicht gedacht war. Deswegen ist auch die Begrifflichkeit Porträt nicht immer richtig…

Tiefliegende Augen, ein fleischiges Kinn, eine knorpelige Nase – bei der Betrachtung deiner Werke erhält man den Eindruck, individuelle Gesichtsmerkmale auszumachen. Orientierst du dich bei der Schaffung der Gemälde an einer Vorlage, sei es ein reales Modell oder eine Fotografie, oder entspringen die schemenhaft angedeuteten Mienen deiner Fantasie?
Ein passendes Modell für meine abstrakt-figurativen Arbeiten zu finden, ist schwierig. Meist ist es so, dass ich auf der Straße oder in der U-Bahn beim flüchtigen Kennenlernen einer Person einen inspirierten Moment habe. Diesen Moment möchte ich dann am liebsten ins Atelier mitnehmen. Aber das funktioniert halt leider nicht. Daher verwende ich für meine Arbeiten Fotografien, oftmals von Dating-Webseiten und Zeitungen, oder auch Screenshots aus Videos und Nachrichtenkanälen. Von den individuellen Gesichtsausdrücken und dem farblichen Erscheinungsbild lasse ich mich inspirieren. Wenn ich Fotografien von Online-Portalen verwende, trete ich mit den abgebildeten Personen in Kontakt, um mir einen Eindruck von der Persönlichkeit zu verschaffen. Diesen lasse ich in die Bilder einfließen.

 

Impression aus dem Atelier von Jaemin Lee
Impression aus dem Atelier von Jaemin Lee

 

Betrachtet man deine Werke in chronologischer Abfolge, fällt auf, dass sich innerhalb deines Malstils ein Wandel vollzieht. Klar umrissene Physiognomien lösen sich zugunsten pastelltöniger Pinselkonstrukte auf, die das menschliche Gesicht nur noch andeutungsweise erfassen. Diese Entwicklung fällt zeitlich mit der Veränderung deiner Lebenssituation und deines Umfeldes zusammen – 2013 bist du von Südkorea nach München gekommen, um an der Akademie das Studium der Malerei aufzunehmen. Besteht da deiner Meinung nach ein Zusammenhang?
Der Umzug nach Deutschland hat mich stark beeinflusst. Dass mich die Akademie in München aufgenommen hat, gibt mir die Möglichkeit, zu malen und mich als Künstler weiterzubilden. Ich kämpfe hier jeden Tag dafür. Mein Leben entwickelt sich positiv – daher werden die Farben auch immer fröhlicher. Wenn ich an meine Arbeiten aus dem Jahr 2013 denke, die ich nach meiner Ankunft in Deutschland in Berlin gemalt habe, spiegelt die düstere Farbe meine Frustration wider. Die Realität der westlichen Welt entsprach nicht meinen Vorstellungen. Die Armut in Berlin überraschte mich und machte mich traurig. Nun bin ich hier an der Akademie; München beeinflusst meine Arbeit definitiv.
Zudem spielt die Veränderung des Umfeldes eine große Rolle. In Südkorea ist das Farbspektrum sehr begrenzt: In der Schule durften wir unsere Haare nicht färben und mussten Uniformen tragen. Es gab keine Individualität. Hier schon. Deswegen fasziniert mich die westliche Welt, die auch mich ein Stück weit verändert und lockerer macht. Somit kann ich auch meine malerischen Fähigkeiten besser entfalten.

Apropos malerische Fähigkeiten: Auch wenn du für deine Arbeiten auf zeichnerische Vorstudien verzichtest, spielt das Zeichnen für deinen malerischen Entwicklungsprozess eine wichtige Rolle. Was bedeuten für dich die Zeichenkurse?
Für mich ist das Zeichnen, vor allem das Aktzeichnen, eine wichtige Basis für alle malerischen Prozesse, weil ich eben auch das menschliche Sujet zum Mittelpunkt meines Schaffens gemacht habe. Das Zeichnen fördert das Sehenlernen im akademischen Sinn. Auch Balletttänzer_innen und Eiskunstläufer_innen müssen jeden Tag trainieren, um die Technik zu beherrschen. Nach zahlreichen Übungsstunden und etlichen Wiederholungen können sie auf der Bühne gelöster sein und die eingeübte Choreografie in künstlerischer Freiheit vorführen. Auch ich möchte das Spiel zwischen Abstraktion und Figuration befreit von technischen Zwängen realisieren.

Lieber Jaemin, vielen Dank dafür, dass du uns einen Einblick in deine künstlerische Arbeit gewährt hast.

 

Du möchtest jetzt Kunst kaufen?

Arbeiten von Jaemin Lee wie Wer zusieht sieht mehr als wer mitspielt IV findet ihr im Pablo & Paul Online-Shop.

 

 

Share on FacebookTweet about this on TwitterPin on PinterestShare on Google+